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Einer Familienlegende auf der Spur

Auguste Ilse Marianne Sophie Lüders (1864-1914)
Auguste Ilse Marianne Sophie Lüders (1864-1914)

Jeder, der sich mit Familienforschung beschäftigt, wird über kurz oder lang auf eine Familienlegende stoßen. So ist es auch mir ergangen. Die Hochzeit meiner Urgroßeltern war lange ein Mysterium: Sie hätten in England geheiratet, weil ihnen eine Hochzeit in Deutschland nicht erlaubt gewesen sei. Als ich davon das erste Mal hörte, wusste ich noch nicht einmal die vollständigen Namen meiner Urgroßeltern väterlicherseits. Meine Urgroßmutter Auguste Lüders (geboren in Wiedensahl) war überliefert, aber nicht der Vorname ihres Ehemannes. Geschweige denn, wo er geboren wurde. Er sollte irgendwo aus Süddeutschland oder aus dem Erzgebirge stammen.  Wo genau sein Geburtsort lag, wusste niemand.

 

Es kam mir zunächst merkwürdig vor, dass weder Geburtsort noch Vorname meines Urgroßvaters überliefert waren. Aber je weiter ich in die Geschichte eintauchte, umso mehr verstand ich die Gründe dafür. Zwei seiner Kinder, mein Großvater Friedrich und seine Schwester Minna, wurden mit 11 bzw. 13 Jahren Vollwaisen, kurz nach Beginn des ersten Weltkrieges. Es gab nach dem Tod der Eltern keine Angehörigen mehr oder besser gesagt, keine Angehörigen, die sich für das Schicksal von Friedrich und Minna interessierten. Sie wuchsen daher getrennt voneinander aber im gleichen Ort auf. Minna wanderte schließlich aus, wogegen Friedrich auch noch den zweiten Weltkrieg erleben musste. Der Lebensweg der Geschwister ist alles andere als einfach gewesen und mit diesem Wissen wunderte es mich nicht mehr, dass die Überlieferung der Vorfahren nicht die erste Rolle spielte.

 

Aber zurück zur Hochzeit: Für mich war die Aussage „Hochzeit in England“ gleichbedeutend mit „Das ist das Ende dieses Familienzweiges. Diese Hochzeit werde ich nie finden“. Aber so schnell wollte ich dann doch nicht aufgeben. Bis ich mich auf die Spur dieser Hochzeit begeben habe, ging jedoch noch viel Zeit ins Land, 2014 setzte ich mich schließlich daran, dieses Rätsel zu lösen. Durch Recherchen im WWW bin ich auf free bmd gestoßen, ein britisches Projekt, dass die standesamtlichen Register von Geburten, Sterbefällen und Hochzeiten aus England und Wales transkribiert und kostenfrei online stellt. Zwischenzeitlich hatte ich herausgefunden, dass mein Urgroßvater Josef hieß und gebürtig aus Böhmen, genauer gesagt aus Götzdorf stammte. Heute heißt der Ort Božíkov und liegt in Tschechien. Die Familienforschung konnte ich dadurch noch mehrere Generationen zurückverfolgen, denn für dieses Gebiet des heutigen Tschechien stehen viele Kirchenbücher online zur Verfügung. Dennoch wollte ich gerne diese „Lücke“ füllen und wissen, ob das Familiengerücht stimmt.

 

Damals vermutete ich als Ort der Hochzeit London, weil es mir logisch erschien eine große und von Deutschland schnell zu erreichende Stadt als Hochzeitsort auszuwählen. Und tatsächlich: Die Suche im online Index führte mich nach London! Die Eingabe „Alschner“, „Marriages“ und „all districts“ ergab dieses Ergebnis:

 

Marriages Sep 1900

Alschner, Josef, Pancras, Volume 1b, page 338

 

Sollte es also wirklich stimmen? Ich machte die Gegenprobe mit Auguste Lüders, wobei ich das „ü“ gleich durch „ue“ ersetzte. Und ich fand: kein Ergebnis!

 

Die erste Freude schlug in Ratlosigkeit um, sollte es vielleicht nur eine Namensgleichheit sein? Nein, das waren zu viele Zufälle: Vor- und Nachname passten (es war außerdem der einzige Eintrag für Alschner im Index) und London schien mir, wie schon erwähnt, sehr logisch. Vielleicht wurden die Ehefrauen nicht im Index verzeichnet? Ich hatte einige Erfahrung im Lesen von Kirchenbüchern gesammelt und festgestellt, dass die Mütter bei den Geburten nicht immer erwähnt wurden. Wobei das eigentlich viel weiter zurück liegende Zeiträume betraf, aber wer weiß?

 

Der Index erlaubte auch die Suche nach Vornamen, also suchte ich „Auguste“ und bekam seitenweise Treffer. Die Ehefrauen wurden also doch erfasst. Aber wo war meine Auguste?

 

Neuer Versuch: Für Josef Alschner hatte ich Volume 1b und Seite 338 sowie die Angabe Sep[tember] 1900 gefunden. Also neue Suche und – Bingo! Auguste Luders hatte ebenfalls im September 1900 in Pancras geheiratet. Das ich statt mit „ü“ einfach nur ein „u“ zur Suche verwenden muss, daran hatte ich in meiner anfänglichen Euphorie nicht gedacht.

 

Aber September 1900 reichte mir als Ergebnis nicht aus. Ich wollte es genauer wissen. Erfreulicherweise konnte mit Hilfe der Angaben aus dem Index recht unkompliziert eine Kopie der Urkunde beim General Register Office (GRO) angefordert werden. Als die Kopie mich per Post erreichte staunte ich nicht schlecht: Es waren mein Josef und meine Auguste, das genaue Hochzeitsdatum war der 21. September 1900, soweit war also alles in Ordnung. Dann aber die Überraschung: Das Dokument enthielt die Angabe einer Kirche! Die beiden hatten demnach kirchlich geheiratet und die Eheschließung anschließend beurkunden lassen.

 

Josef war katholisch, Auguste lutherisch, diese Angaben fehlten im Hochzeitseintrag. Nicht, weil der Eintrag vergessen wurde. Nein, es gab dafür einfach keine Spalte. Dafür war aber die Adresse der Unterkunft in London aufgeführt.

 

Bei der Kirche handelte es sich um die „German Lutheran Church Cleveland Street“. Schmunzeln musste ich zunächst über Josefs Angabe seines Standes. Durch meine Recherchen wusste ich, dass er geschieden war und zwar bereits seit 1891, dennoch hatte er als Stand „Witwer“ eintragen lassen. Seine 1. Ehefrau lebte zu der Zeit aber noch und war seit 1894 erneut verheiratet. Tragischerweise hat Josef damals sein Schicksal vorweg genommen, denn er wurde später tatsächlich Witwer: Am 20. September 1913, einen Tag vor dem 13. Hochzeitstag starb Auguste im Krankhaus Siloah in Hannover. Josef folgte ihr am 3. November 1914.

 

Mit meiner Recherche war ich viel weiter gekommen, als ich jemals gedacht hatte, nun wollte ich auch noch die Kirche finden. Leider musste ich feststellen, dass das Gebäude in der Cleveland Street im zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Mit dem Wunsch nach einem Foto der Kirche habe ich mich daraufhin an die German Lutheran Church (St Mary with St George) in der Sandwich Street Nr. 10 gewandt. Zu meiner Überraschung stellte sich heraus, dass eine Chronik dieser Kirche mit dem Titel "Deutsche Evangelisch-Lutherische St. Marien-Kirche; London; 1694-1994" existiert, die auch ein Bild des Gebäudes in der Cleveland Street enthält.

Die Krönung war dann der persönliche Besuch des jetzigen Kirchengebäudes in der Sandwich Street Nr. 10 im Sommer 2015! Natürlich verbunden mit einem Blick in die British Library und Bahnhof Kings Cross mit Gleis 9 ¾. Beide Gebäude sind nicht weit vom heutigen Kirchengebäude entfernt.

 

Fazit: Familienlegenden können durchaus wahr sein. Begibt man sich auf die Spur dieser Überlieferungen, tauchen mit etwas Glück neue und unerwartete Details aus dem Leben der Vorfahren auf.

 

Ich freue mich darüber, dass diese Hochzeit in England gefunden werden konnte und auch die sehr vage Angabe der Herkunft Josef Alschners aus Süddeutschland / Erzgebirge stimmte. Der Ursprung der Familie liegt geografisch allerdings noch etwas weiter gen Osten. Im 17. Jahrhundert führt die Spur nach Žibřidice (ehemals Seifersdorf). Aber das ist eine andere Geschichte.

 


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Bildnachweis:

Das Bild der Marienkirche, Cleveland Street, stammt aus der im Text genannten Chronik. Vielen Dank an Pfaffer Bernhard Rapp für die Genehmigung zur Verwendung in diesem Beitrag.

Alle anderen Bilder: (c) Petra Mensing